Mozartiana. Eine Glosse über Neuerscheinungen zum Mozartjahr 2006

Nachdem das Mozartjahr mehr als zur Hälfte vorbei ist, kann hier von einigen Produkten zum Jubiläum die Rede sein, ohne dass befürchtet werden müsste, damit ungewollt deren Absatz zu fördern. Denn eine zurückblickende Agenda wird selbst der hartnäckigste Nostalgiker nicht kaufen wollen, und auch ein Wandkalender hat Mitte des Jahres seine Verfallsfrist längst überschritten: er taugt nur noch fürs Altpapier-Recycling. Der Musik-Kalender 2006, den der Arche-Verlag unter das Motto „Mozart und ich“ gestellt hat, war allerdings schon bei seinem Erscheinen so altbacken, dass die umgehende Entsorgung angezeigt gewesen wäre. Interpreten-Koryphäen einer vergangenen Zeit und Komponisten von Louis Spohr bis Carl Orff sind mit Äusserungen zitiert, deren Horizont zwischen den Begriffen „Wunder“ und „Vollendung“ oszilliert. Der Dirigent Paul Sacher sagt, es gebe keine Musik, die ihn tiefer ergreife als diejenige Mozarts, und liefert auf der beigefügten CD den Beweis, dass das mitnichten für ein gelungenes Dirigat bürgt, so wenig wie die Liebesbekundung zu Mozart den Carl Orff von seinen Grobschlächtigkeiten abgehalten hat.

Der Taschenkalender „Mit Mozart durch das Jahr 2006“, den der Bärenreiter-Verlag herausgebracht hat, gibt sich gegenüber dieser mitunter peinlichen Bekenntnis-Orgie weit prosaischer: da schwafelt kein Ernest Ansermet von der „vollkommen vergeistigten erotischen Sinnlichkeit“ Mozarts, sondern wir erfahren, dass der Meister am 14. Januar 1786 unter „starken Kopfschmerzen und Magenkrämpfen“ litt. Und statt Künstlerfotos, wie wir sie von Schallplatten-Covers kennen, blickt uns das Phantombild Mozarts entgegen, welches das Bundeskriminalamt Wiesbaden zum 200.Todestag 1991 erstellt hat. Auf dem Polizeifoto mutiert selbst die Gottheit zum Kriminellen, und falls uns darob Magenkrämpfe oder gar Angstzustände packen, hilft sicher der Hausarzt, für dessen Adresse in den „Persönlichen Daten“ auf der Rückseite des Titelblatts eine Zeile freigehalten ist. Auch bei den sonstigen Daten hat der Bärenreiter-Verlag nicht nur an die Familie Mozart gedacht: eine Übersicht über die Schulferien in sämtlichen Bundesländern ermöglicht es, die Ferienplanung aufs Mozartjahr abzustimmen: eine Familie aus Rheinland-Pfalz könnte z.B. zum 240. Jubiläum nach Lyon reisen, wo sich die Mozarts laut Kalender vom 26. Juli bis zum 18. August 1766 aufgehalten haben; für Badener und Würtemberger böte sich ein auf den 15. September terminierter Ausflug nach Wien an; Johann Adolf Hasses Metastasio-Oper „Partenope“, die sich die geniale Familie dort wenige Tage nach der Uraufführung im September 1767 zu Gemüte führte, würden sie allerdings auf den Spielplänen vergeblich suchen.

Wer sich nicht für Schulferien- und Kopfschmerztermine interessiert, vielmehr seinem Kopf etwas Intelligentes und Vergnügliches zuführen möchte, dem sei das im Residenz Verlag erschienene „Mozart Wörterbuch“ empfohlen. Statt von Januar bis Dezember geht es von A bis Z, was der Haltbarkeit entschieden zugute kommt. Für diese ist der Autor, der in Salzburg lebende Christian Martin Fuchs, auch besorgt, indem er sich die Erkenntnisse der neueren Mozart-Forschung zunutze macht anstatt angejahrte Mythen herbeizuzitieren. Unter A finden wir nicht nur Amadé, Amadeo, Amadeus und Amandeus, und damit eine kleine Abhandlung über die Verwirrung bei der Namensbildung des Jubilars nebst Verweisen auf die popkulturelle Verwurstung desselben, nein, A steht auch für „Arsch“ als einer Lieblingsvokabel des angeblich so „vollkommen vergeistigten“ Erotomanen. Das abschliessende „Zungenspiel“ freilich hat dann nichts mit dem notorischen Arschlecken zu tun, sondern zitiert eine berüchtigte Stelle aus der „Zauberflöte“, die da lautet: „Ein Weib tut wenig, plaudert viel. Du Jüngling glaubst dem Zungenspiel?“ Mit dieser Misogynie habe sich Mozart für die folgenreiche Untreue seiner Ehefrau opernhaft gerächt, meint Autor Fuchs und vermag die These mit einem Brief an Constanze, der ein vorweggenommenes Zauberflöten-Zitat enthält, plausibel zu machen. Im Übrigen geht Fuchs vor dieser Oper nicht in die Knie wie die meisten Mozart-Apologeten vor ihm, sondern stuft sie als „ästhetisch und dramaturgisch den Da-Ponte-Opern Figaro, Don Giovanni und Così weit unterlegen“ ein; inhaltlich bringt er sie auf die Formel „Societyhochzeit als Gender-Abenteuer-Biathlon quer durch Freimaurerrequisiten“, Sarastro gilt ihm als „ein ägyptischen Altherrenriten frönender Sklavenhalter“. Folgerichtig langweilt er uns nicht mit phrasendreschenden Zeloten, sondern gibt einige Häppchen von kompetenten Mozart-Verächtern zum Besten. So die Tagebuchnotizen eines zeitgenössischen Miesmachers namens Karl Graf von Zinzendorf, der sich sogar beim „Don Giovanni“ langweilte, und natürlich Glenn Gould, für den die g-Moll-Sinfonie aus acht bemerkenswerten Takten in der Durchführung des letzten Satzes plus einer halben Stunde Banalität besteht. Immerhin hat Gould zur Denunziation Mozarts dessen sämtliche Klaviersonaten eingespielt und Graf Zinzendorf hat Mozarts Wiener Auftritte von Anfang bis Ende begleitet – an Kenntnissen fehlte es also beiden Kritikern keineswegs, und Fuchs hat Humor genug, deren schräge Urteile tel quel stehen zu lassen. Er selber erfindet für den „Türkischen Marsch“ eine hübsche Entstehungsgeschichte, die dieses „Gassenhauer-Rondo der dilettantenabendnotorischen Klaviersonate A-Dur KV 331“ in den Zusammenhang eines Salzburger Wirtshauses zur Sperrstunde rückt. Nur nicht ganz passen will, dass diese Sonate in Paris entstanden ist!

Bei der systematischen Erörterung der Hypothesen zu Mozarts Tod wechselt Fuchs zwanglos und fast unmerklich zwischen wissenschaftlicher Akribie und Fiktion, indem er sie auf den gemeinsamen Nenner der Absurdität bringt. Pseudowissenschaftlich ist auch sein System lexikalischer Querverweise, mit denen man beispielsweise vom Stichwort „Arsch“ nicht nur zu „Fäkalpoesie“, sondern auch zu „Sparopern“ gelangt, allwo Mozarts Vorschlag referiert wird, einen Kastraten sowohl als Primo uomo wie als Prima donna einzusetzen, wodurch das Stück interessanter würde, indem man die Tugend der beiden Liebenden bewundere, die so weit geht, dass sie mit allem Fleiss die Gelegenheit vermeiden, sich in publico zu sprechen. So Mozart, der den Adressaten anschliessend ermahnt, sein Möglichstes zu tun, „dass die Musik bald einen Arsch bekommt“, denn das sei das Notwendigste; einen Kopf habe sie jetzt, was aber eben das Unglück sei. Als Avantgardist auf unerwartetem Feld begegnet uns Mozart in diesem Büchlein mehrfach: so erklärt Fuchs den fantasievollen Briefschreiber zum Vorläufer der konkreten Poesie eines Ernst Jandl u. Co., sowie zum Erfinder des Wagnerschen und Hofmannnsthal-Straussschen Musikdramas, zumindest in der Theorie – hatte er doch in einem Brief an den Vater eine Art Drama imaginiert, wo nicht gesungen, sondern deklamiert wird, wo die Musik ein obligates Rezitativ ist und bisweilen sogar unter der Musik gesprochen wird.

Das handliche Büchlein aus dem Residenz-Verlag taugt übrigens auch als Reiseführer mehr als der Kalender von Bärenreiter: bei Fuchs erfährt man nebst den Daten von Mozarts Reisen, was der Meister aus Salzburg von einigen Aufenthaltsorten hielt, wie es ihm dort erging bzw. wie es dort heute aussieht. Besonders dankbar ist man dem Autor, dass er dringend davon abrät, vom Pannenstreifen der A 23, der berüchtigten Südosttangente Wiens, einen Blick auf Mozarts Ruhebett im Sankt Marxer Friedhof zu werfen. Dafür das Leben zu riskieren, lohnte sich in keinem Falle, denn einen Platz neben dem Angebeteten ergattern könnte sich nicht einmal der eifrigste seiner Apologeten. Der Friedhof ist nämlich seit langem geschlossen. Joannes Chrisostomus Sigismundus Amadeus Wolfgangus Mozartus requiescat in pace. Wenn schon die DNA-Analytiker es nicht lassen können, nach seinem Schädel zu graben, wäre wenigstens seiner Musik nach den geballten Ladungen dieses Jahres eine Ruhepause zu gönnen. Wenigstens bis ins Jahr 2011, wenn der 255. Geburtstag und der 220. Todestag anstehen.

• „Mozart und ich. Musik-Kalender 2006“, Text- und Bildauswahl: Elisabeth Raabe, Arche-Verlag, Zürich-Hamburg 2005

• „Mit Mozart durch das Jahr 2006“, hrsg. von Stefan Gros, Christoph Heimbucher, Berthold Kloss, Bärenreiter-Verlag, Kassel 2005

• „Das Mozart Wörterbuch. Von Amadé bis Zungenspiel“, versammelt von Christian Martin Fuchs, Residenz Verlag, St. Pölten-Salzburg 2005, 141 S.

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