Zum Klavierwerk Erich Schmids

Erich Schmid1 war neben Alfred Keller der einzige Schweizer Schönberg-Schüler. Er studierte bei ihm in Berlin im Winterhalbjahr 1930/31. In der Schweiz war Schmid lange Zeit nur als Dirigent, insbesondere als Chefdirigent des deutschschweizerischen Rundfunk-Orchesters, des Radio-Orchester Beromünster2, bekannt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist sein kompositorisches Schaffen erst seit den 80er Jahren wieder ans Tageslicht geholt worden. Sein schmales, aber gewichtiges Oeuvre war im wesentlichen 1943 abgeschlossen (es folgten nur noch einige wenige Gelegenheitskompositionen). Die Bagatellen op. 14, die im Zentrum dieser Einführung in sein Klavierwerk stehen, sind in diesem Sinne sein letztes Werk – das Werk eines 36jährigen, der noch 57 weitere Jahre vor sich haben sollte. Schmid hat es für eine 1989 erschienene Porträt-CD ausgewählt3, vorher waren seine Werke weder auf Tonträgern noch in Editionen zugänglich. Die Bagatellen op. 14 gehörten auch zu den drei Werken, die in den 90er Jahren ediert wurden4, wenn auch in mangelhafter Weise.5 Man kann also davon ausgehen, dass Schmid die Bagatellen als sein wichtigstes Klavierwerk betrachtete. Die übrigen drei Klavierwerke werden hier partiell bzw. summarisch vorgestellt, so dass die Entwicklung sichtbar wird, die Schmid in 15 Jahren kompositorischer Tätigkeit durchlaufen hat.

Die Drei Klavierstücke von 1928 tragen keine Opuszahl, was darauf hinweist, dass Schmid sie nicht als vollgültiges Werk anerkannt hat. Die Opuszahl 1 gab er der 1. Sonatine für Klavier und Violine.6 Die Sonatine war jenes Stück, welches Schönberg 1930 in Frankfurt hörte und aufgrund dessen er Schmid als Schüler annahm. Sie knüpft unmittelbar an die Klavierstücke von 1928 an: Sie beginnt wie das erste der Klavierstücke mit einer Akkordbrechung. (Notenbeispiel 1: 1. Sonatine für Klavier und Violine, T. 1–4)

Beide Werke kommen mit einem Minimum an Material aus, wobei sich im weiteren Verlauf die Sonatine allerdings konventioneller erweist als die Klavierstücke. Offenbar hat Schmid mit dem Begriff des "vollgültigen Werks" gewisse klassizistische Vorstellungen verbunden. Verfehlt wäre es jedenfalls, die drei Klavierstücke bloss als Vorstufe zum späteren Werk zu sehen. Im Gegenteil: Das Werk des Einundzwanzigjährigen erstaunt durch die kompositorische Konsequenz, mit der das Material entfaltet wird. Insbesondere das erste Stück ist in dieser Hinsicht beispielhaft und soll deshalb hier etwas näher betrachtet werden. Es besteht im wesentlich aus drei Akkorden, einem achttönigen, einem siebentönigen und dann wieder einem achttönigen, wobei keine Tonverdopplungen vorkommen und das chromatische Total ausgeschöpft wird (T. 1–3). (Notenbeispiel 2: Drei Klavierstücke, Nr. 1, T. 1–17)

Ebenso erstaunlich wie dieses Ausgangsmaterial selbst ist, dass die drei Takte, in denen diese drei Akkorde exponiert werden, in nuce beinahe alles enthalten, was in diesem Stück zur Entfaltung kommt: Akkorde als simultane Zusammenklänge, gebrochene Akkorde in Aufwärts- und Abwärtsbewegung und eine Synkope. Schmid macht nichts anderes als diese Elemente zu entfalten, zu komplizieren und wieder zusammenzuziehen. So wird die Auf/Abwärtsbewegung in den folgenden Takten kompliziert, indem in die Aufwärtsbewegung abwärts gerichtete Schritte eingebaut werden. Achtelbewegung und Akkorde erscheinen nicht nur sukzessiv, sondern auch simultan. Dadurch kann die Synkope evident werden (in T. 5 und dann gehäuft in T. 11–14). In T. 6 gibt es eine erste Stauung der Bewegung, nach der Schmid einen zweiten Anlauf nehmen kann, der nun bereits auf dem komplexeren Niveau der T. 4–6 ansetzt. In T. 9 baut er zwei "neue" Elemente ein: eine Sechzehntelfigur, deren Töne identisch mit den ersten fünf des Stückes sind, nur dass sie im Krebs erscheinen, und ein aus drei auftaktigen Achteln bestehendes "Motiv", das eine Tonrepetition und auf dieser eine Austerzung enthält. Nicht aus Pedanterie wird dies hier so genau beschrieben, sondern weil es für den Fortgang des Stückes wichtig ist: Die Sechzehntelbewegung der Akkordbrechung wird den ganzen Mittelteil prägen, das Achtel-"Motiv" bildet das Scharnier zwischen erstem Teil und Mittelteil: Mit ausgeterzten Tonrepetitionen stellt Schmid in T. 14/15 jene Stauung her, die den ersten Teil abschliesst, und er benutzt dann in T. 16/17 die drei auftaktigen Achtel, um zusammen mit den Sechzehntelgruppen den Mittelteil in Fahrt zu bringen.

Zu Ende gebracht wird der Mittelteil wiederum durch repetierte Terzen (dem Bewegungsimpuls dieses Teils entsprechend in Sechzehntel aufgelöst) sowie durch eine Rückkehr zu den Akkorden der ersten Takte (in Sechzehntelbrechungen und arpeggiert). Dadurch wird die Reprise vorbereitet, die allerdings stark verändert ist. Mit dem ersten Teil hat sie hauptsächlich die Dominanz der Achtelbewegung gemein, aber auch die Sechzehntelfiguren erscheinen im Sinne einer Reminiszenz wieder. Das synkopische Moment ist zur einer im Dreiachtel-Rhythmus (innerhalb des 4/4-Taktes) geführten Gegenstimme verdichtet. In den letzten sieben Takten schliesst sich der Kreis. (Notenbeispiel 3: Drei Klavierstücke, Nr. 1, T. 41–49) Schmid kommt hier auf die ersten drei Takte zurück, führt diese nochmals zu einer konstruktiven Verdichtung und lässt dann die Bewegung zum Stillstand kommen, indem er die Achtelbewegung in arpeggierte und lange gehaltene Akkorde zurücknimmt. Die Verdichtung ergibt sich durch Überlagerung der Aufwärts- und Abwärtsbewegung, wobei die Unterstimme T. 42 dem Krebs von T. 2–3/1 entspricht und die Oberstimme die Umkehrung der Unterstimme bringt. Analog verhalten sich T. 45/46 zu T. 1. Eine Verdichtung ergibt sich ferner durch die Überlagerung von Achtelbewegung und Akkorden in T. 42–45, wobei die Akkorde den beiden Hälften des Akkords T. 3 entsprechen und auch dessen synkopisches Moment aufgreifen. Die letzten drei Takte schliesslich bestehen aus nichts anderem als den drei Akkorden, mit denen das Stück beginnt.7

Die klassische Dreiteiligkeit ist also überlagert durch variative Prozesse, die derart eingreifend sind, dass kein Stein auf dem andern bleibt: Kein Takt im dritten Teil ist genau so wie im ersten, anderseits gibt es aber kaum etwas, was nicht auf Vorangeganges zurückgeführt werden kann. Die Technik der entwickelnden Variation, die Schmid in diesem ersten der drei Klavierstücke von 1928 anwendet, aber auch die Tendenz zur Zwölftönigkeit zeigen, wie nahe er schon damals, also vor der Lehrzeit bei Schönberg, der Wiener Schule stand. Spezifischer noch rückt ihn der rigorose, im Grunde athematische Konstruktivismus in die Nähe Weberns: Die symmetrische Bewegung, die sogar noch im gegenläufigen Arpeggio des Akkordes T. 3 nachklingt wie auch in der symmetrischen Struktur dieses Akkordes selbst8, aber auch die klangliche Zerbrechlichkeit dieses Anfangs erinnern an Webern. Schmid dürfte damals noch nicht viele Werke Weberns gekannt haben. Zwar wurden 1926 anlässlich des IGNM-Festes in Winterthur Weberns Orchesterstücke op. 10 durch Hermann Scherchen uraufgeführt. Schmid hat aber offenbar diese Aufführung nicht gehört, sondern ist den Stücken erst 1929 in einem Frankfurter Abonnementskonzert, ebenfalls dirigiert von Hermann Scherchen, begegnet.9 Diese Aufführung, so berichtete Schmid im Rückblick10, wurde für ihn "zum entscheidenden Erlebnis im Hinblick auf Weberns Musik. Ich war einfach betroffen von dieser für mich neuen Klangwelt. Dieser Reichtum an Nuancierungen der Instrumentalfarben innerhalb knappster Formulierung melodischer und harmonischer Geschehnisse – wirklich, da fühlte ich Luft von anderen Planeten (…). Dieser Glaube an den Komponisten Webern blieb mir unerschütterlich erhalten, bis in die heutige Zeit, und ich muss bekennen, dass mich lange Zeit diese sublime musikalische Ausdruckswelt mehr und direkter ansprach als Schönbergs oder Bergs Musiksprache. Es ist der lyrische Hauch, der diese Musik beseelt." Er berichtet weiterhin von seinen Webern-Erfahrungen just in den Jahren, als die drei frühen Klavierstücke entstanden: "Eine intensive Beschäftigung mit Webern und seinem Werk begann für mich während meiner Studienzeit in Frankfurt am Main. Dafür einzustehen, war ja nicht leicht, galt doch Weberns Musik für viele als blutlose Gehirnmusik, die abseits von allem triebhaften Musikmachen steht. Und wer davon beeindruckt war, wurde von vornherein nicht ganz ernst genommen. Immerhin gab es damals auch in Frankfurt eine kleine Gruppe von Musikern, die sich ganz besonders für Webern einsetzten (Adorno, Erich Itor Kahn, Mátyás Seiber, Hans Rosbaud am Frankfurter Rundfunk). Auch für uns waren natürlich die Entwicklungen bei Webern in vieler Hinsicht neu und überraschend. Mit Spannung erwarteten wir deshalb jede Neuerscheinung eines Webernschen Werks. Im Studio für neue Musik hörten wir op. 7 und 11. Beide Werke hatte der Komponist anlässlich eines kurzen Aufenthalts mit den Musikern einstudiert. Ich selbst hatte Gelegenheit, für ein Konzert dieser Reihe mit einer Sängerin die 4 Lieder op. 12 vorzubereiten und zu begleiten."11 Wenn Schmid 1930 zu Schönberg ging und nicht zu Webern, so hauptsächlich aus sozusagen kulturgeographischen Gründen: Er zog es vor, in Berlin zu studieren statt in Wien.

Die beiden nächsten Klavierwerke, die 1932 noch in Frankfurt entstandenen Sechs Stücke op. 6 und die Widmungen op. 9, fünf kleine Stücke, die Schmid nach seiner durch die Machtergreifung der Nazis erzwungenen Rückkehr in die Schweiz in den Jahren 1933–35 schrieb12, zeigen deutlich den Einfluss Schönbergs. Sie sind in Zwölftontechnik geschrieben, aber in vergleichsweise unorthodoxer Weise (im Vergleich zu den Bagatellen op. 14, s. u.). Es kommen in den Stücken op. 6 und 9 nicht nur Umstellungen einzelner Töne der Reihe vor, sondern auch ganzer Segmente. Die Komposition scheint insgesamt nicht von den Reihenverläufen determiniert, sondern diese werden als ein Reservoir genutzt, über das der Komponist souverän verfügt. Auch satztechnisch sind beide Opera weniger streng gehalten als das erste Klavierstück von 1928 und die späteren Bagatellen. Die Anzahl der Stimmen ist variabel, und der Satz ist hierarchisch in Hauptstimmen, Nebenstimmen und Akkordtöne gegliedert. Das Vorbild Schönbergs schimmert auch hier durch: Eine von mannigfachen Nebenstimmen umrankte bzw. kontrapunktierte Hauptstimme findet sich gerade in den Zwölftonwerken Schönbergs auf Schritt und Tritt. Schmid erreicht in seinen melodischen Formulierungen nicht die Prägnanz Schönbergs und in den Nebenstimmen nicht dessen oft intrikate Vielfalt. Vielmehr neigen seine Hauptstimmen zur Kleingliedrigkeit. Die Nebenstimmen zeigen schon hier die Tendenz zu komplementären Rhythmen, wodurch sie weniger je für sich fasslich werden, als dass sie insgesamt ein Kontinuum herstellen. Sie erfüllen wesentlich den Zweck, die Musik in Gang zu halten.

Neigt Schmid schon in op. 6 und 9 zur Nivellierung von Haupt- und Nebenstimmen, so zieht er daraus in den Bagatellen op. 14 die Konsequenz, auf eine Stimmenhierarchie weitestgehend zu verzichten: Er schreibt statt dessen zwei- und dreistimmige Inventionen (mit einstimmigen bzw. akkordischen Einschüben). Thematische Formulierungen gibt es nicht oder nur in rudimentärer Weise, etwa in Form eines rhythmisch prägnanten Motivs (Nr. 2 und 3). Dafür ist die Reihe in einem viel höheren Masse strukturbestimmend als in den vorhergehenden Werken. Die drei Tetrachorde, die die Reihe liefert, sind für die Komposition von ausschlaggebender Bedeutung. Der Einfluss Weberns ist unverkennbar. Dass Schmid sich von Webern stärker angesprochen fühlte als von Schönberg und Berg, bestätigt sich in dieser Komposition und spiegelt sich auch in seinem persönlichen Umgang. Während der Kontakt zu Schönberg fast völlig abbrach13, intensivierte sich die Beziehung zu Webern, trotz der schwierigen Bedingungen: Wien und Glarus, wo Schmid von 1934–49 als "Musikdirektor" tätig war, sind weit voneinander entfernt, und die Kriegszeit erschwerte durch Briefzensur und eingeschränkte Reisemöglichkeiten die Kommunikation zusätzlich. Schmid bat Webern brieflich um Auskünfte betreffend seiner neueren Kompositionen, worauf Webern ausführlich antwortete. Zweimal kam es in den Kriegsjahren zur persönlichen Begegnung: 1940, als Schmid in Winterthur die Passacaglia op. 1 dirigierte und 1943, als Webern zur Uraufführung der Variationen op. 30 durch Hermann Scherchen wiederum in Winterthur weilte.14 Gerade Weberns Orchestervariationen, für die die Tetrachordstruktur der Reihe konstitutiv sind, dürften für die kurz darauf entstandenen Bagatellen Schmids von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Wie in Weberns Spätwerk verhält es sich auch in jenem von Schmid: Die Reihe stellt nicht allein das Tonhöhenmaterial für die Komposition bereit, vielmehr determiniert die Reihe über weite Strecken die Komposition selbst. Die Analyse des Werks führt deshalb zwangsläufig über die Analyse der Reihenstruktur, ist ohne diese nicht zu leisten. Mit andern Worten: Man kommt bei diesem Werk um das verpönte Reihenzählen nicht herum. Das braucht hier nicht im Einzelnen durchgeführt zu werden, aber einige Bemerkungen zur Reihe und zum Gebrauch, den Schmid von ihr macht, sind zum Verständnis der Komposition unerlässlich. (Notenbeispiel 4: Reihe der Bagatellen op. 14: a, b, d, h, es, e, cis, f, g, c, fis, gis)

Die Reihe ist in drei Tetrachorde gegliedert. Das zweite Tetrachord beginnt wie das erste mit einer kleinen Sekunde aufwärts und bringt dann in den Tönen 6–8 die Krebsumkehrung von 2–4. Der Bezug des dritten Tetrachords zu den zwei vorangegangen ist lockerer: Er besteht darin, dass die Töne 9 und 11 ebenso wie 2 und 4 bzw. 6 und 8 im Halbtonabstand stehen und der zwischen ihnen liegende Ton relativ weit entfernt ist. Da Schmid die Reihe sehr oft melodisch gebraucht und dabei den Halbtonabstand überwiegend als kleine Sekunde realisiert (und nicht als grosse Septime), führt das in allen drei Tetrachorden zu einer charakteristischen Sprungstruktur, welche die Analogie zwischen ihnen sogar grösser erscheinen lässt als sie effektiv ist. Trotz der tetrachordischen Struktur enthält die Reihe sämtliche möglichen Intervalle. Im Gegensatz dazu ist der Gebrauch, den Schmid von der Reihe macht, von Selbstbeschränkung gekennzeichnet: In den ersten vier Bagatellen verwendet er nur je eine der Formen und verzichtet auf jegliche Transpositionen (Nr. 1 = Original, Nr. 2 = Krebsumkehrung, Nr. 3 = Krebs, Nr. 4 = Umkehrung). Erst Nr. 5 bringt alle vier Grundformen und zusätzlich je drei Transpositionen: dies nicht nur, weil es schliesslich keine fünfte Grundform gibt – das würde die Transpositionen nicht erklären –, sondern aufgrund des Charakters des Stücks. Es handelt sich um ein Perpetuum mobile, also um ein Stück in prinzipiell gleichförmig durchlaufender Bewegung. Diese Gleichförmigkeit der Bewegung gleicht Schmid durch eine Vielfalt von Tonhöhenkonstellationen aus. Erst damit wird das Stück, das ja keine minimal music sein soll, überhaupt interessant. Die Tetrachorde sind aber nicht allein für die intervallische Struktur der Reihe bestimmend, sondern prägen auch das gesamte "äussere" Erscheinungsbild. Wir begegnen oft Kombinationen von Reihen-Tetrachorden: so z. B. gleich zu Beginn des ersten Stücks, in dem die Töne 1–4 im Diskant, 5–8 in der Mittelstimme und 9–12 im Bass gebracht werden. (Notenbeispiel 5: Bagatellen op. 14, Nr. 1, T. 1–9)

In Diskant und Mittelstimme entspricht die Tetrachordstruktur im ersten Abschnitt (T. 1–4/1) weitgehend der Phrasenbildung. Nur im Bass steht mit sechstönigen Phrasen am Anfang und Schluss die Phrasenbildung nicht in Übereinstimmung mit der Viertonstruktur der Reihe.

Am radikalsten ist die Reduktion der von der Reihentechnik gebotenen Möglichkeiten im vierten Stück, in dem Schmid allein die untransponierte Umkehrung verwendet. (Notenbeispiel 6: Bagatellen op. 14, Nr. 4, T. 1–9) Diese Beschränkung auf eine einzige Reihenform würde aber das Stück noch nicht von den ersten drei unterscheiden, die dieselbe Beschränkung aufweisen. Das Eigentümliche hier ist, dass die Tetrachorde überwiegend in "enger Lage", d. h. mit ihren kleinstmöglichen Intervall erscheinen. Dadurch wird eben jener Sprung hin- und zurück evident, der jedes der drei Tetrachorde prägt (Sprung natürlich nicht zum gleichen, sondern zum benachbarten Halbton). Schmid verzichtet weitgehend sowohl auf Oktavversetzung einzelner Töne wie auf simultanes Erklingen von Reihentönen innerhalb eines Tetrachords. Zu dieser Beschränkung der reihentechnischen Möglichkeiten kommt hinzu, dass die Tetrachordstruktur sehr oft mit der Phrasenbildung übereinstimmt.

Da die Möglichkeiten des Stimmentauschs in einem dreistimmigen Satz begrenzt sind, ist die zwangsläufige Folge, dass immer wieder gleiche Tonkonstellationen und -kombinationen erscheinen. Demzufolge ist der Parameter, in dem sich die Veränderung zur Hauptsache abspielt, der Rhythmus. Hier müsste die Analyse eigentlich erst einsetzen: Sie würde zeigen, dass auch hier gewisse Gesetzmässigkeiten, wiederkehrende Muster bestehen, ohne dass jedoch von einer Serialisierung des Rhythmus gesprochen werden kann.

Nr. 4 zeigt als streng dreistimmiges Stück besonders ausgeprägt den Inventions-Charakter15 der Bagatellen. Auch die übrigen Stücke sind im Prinzip zwei- oder dreistimmige Inventionen. Die temporäre Aufhebung der Vollstimmigkeit dient Schmid als formbildendes Element. So komprimiert er in den Zwischenspielen von Nr. 1 die Reihe zu akkordischen Strukturen, um sie dann in Einstimmigkeit auslaufen zu lassen (Notenbeispiel 5, T. 4–6). Darauf kann dann die Reprise der tetrachordischen, dreistimmigen Inventionsstruktur einsetzen.

In Nr. 2 (einer dreistimmigen) und 3 (einer zweistimmigen Invention) verhält es sich ähnlich: Durch akkordartige Überlappung von Reihentönen wird jeweils das Ende eines Abschnitts herbeigeführt, und die drei- bzw. zweistimmige Polyphonie markiert dann den Beginn eines neuen Abschnitts.

In Nr. 5, dem Perpetuum mobile, sind Stimmführung/Stimmenzahl in Verknüpfung mit Rhythmus und Tempo als formbildende Elemente eingesetzt: Die dominierende Perpetuum mobile-Ebene ist zweistimmig imitatorisch, allerdings mit minimalen oder gar keinen Überlappungen, so dass der primäre Eindruck der einer fast ununterbrochen durchlaufenden Sechzehntel-Bewegung in schnellem Tempo ist. (Notenbeispiel 7: Bagatellen op. 14, Nr. 5, T. 1–9)

Am andern Ende der Skala stehen völlig synchrone Akkordstrukturen in langsamen Tempo. (Notenbeispiel 8: Bagatellen op. 14, Nr. 5, T. 22/4–25/1)

Dann gibt es verschiedene Zwischenformen: z. B. in T. 4 ff. (Notenbeispiel 7) einen akkordisch angereicherten Perpetuum-mobile-Abschnitt in mittlerem Tempo, worauf durch Auslassung von Sechzehntel-Impulsen das Perpetuum mobile aufgebrochen und zum zeitweiligen Stillstand gebracht wird. Der Wechsel in Satzstruktur, Rhythmus und Tempo (Notenbeispiel 7, T. 8/4) markiert dann den Beginn des zweiten Abschnitts, die Wiederkehr des Perpetuum mobile.

Was die Gestaltung des Rhythmus betrifft, fällt auf, welchen Wert Schmid in diesen Stücken auf Komplementärrhythmen legt. Nicht nur im Schlussstück erzeugt er damit einen musikalischen Fluss, der zwar gelegentlich gestaut wird, aber stets wieder von neuem anhebt. Auch die Polyphonie ist diesem Ziel untergeordnet. Es werden nicht so sehr die einzelnen Stimmen profiliert und gegeneinander gesetzt, als dass durch ihr komplementärrhythmisches Zusammenwirken ein fliessendes Ganzes erzeugt wird. Dies ist in den polyphonen Abschnitten von Nr. 1 (Notenbeispiel 5, T. 1–4/1 und T. 6(letztes Achtel)–9) sehr schön zu beobachten: Nur auf vier der 37 Sechzehntel erfolgt kein Impuls, wobei es durchgehende Sechzehntel-Bewegungen in einzelnen Stimmen nur rudimentär gibt, d. h. die insgesamt fast ununterbrochene Sechzehntel-Bewegung kommt durch das Zusammenwirken der drei Stimmen zustande. Tonhöhe und Rhythmus werden oft als selbständige, voneinander unabhängige Parameter behandelt. Die Unabhängigkeit von Tonhöhe und Rhythmus zeigt sich etwa im zweiten polyphonen Abschnitt von Nr. 1 (Notenbeispiel 5, T. 6(letztes Achtel)–9), in dem Schmid Rhythmus und Tonhöhen neu kombiniert: Die rhythmische Struktur des Diskants ist gleich dem Anfang, aber die Tonhöhen entsprechen dem Bass der T. 1–4. Die Mittelstimme kombiniert den Rhythmus des Basses mit den Tonhöhen des Diskants von T. 1–4; der Bass entspricht der Mittelstimme der Anfangstakte.

Im dritten polyphonen Abschnitt (T. 15 ff.) entsprechen die Tonhöhen der drei Stimmen wieder dem ersten Abschnitt. Dafür ist der Rhythmus verändert, insbesondere die Komplementärrhythmik etwas zurückgenommen. Dadurch ergeben sich zusätzliche Ruhepunkte, die den Schluss des Stückes vorbereiten.

Auch hier wirkt der Rhythmus als formbildendes Element. Grob gesagt ist rhythmische Kontinuität der Ausgangspunkt und Normalfall in diesen Stücken. Ihre Aufhebung ist das Kontrastmittel, welches eine Reprise vorbereitet oder aber den Schluss herbeiführt.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Schmid die Formen seiner Bagatellen op. 14 durch die Entgegensetzung von Polyphonie und Homophonie einerseits und durch rhythmische Massnahmen und Tempo-Kontraste andererseits artikuliert. Die Diasthematik spielt dagegen bei der Formbildung eine untergeordnete Rolle – darin zeigt sich ebenfalls, dass Schmid Webern näher steht als Schönberg.

Die verschiedenen Reihenformen dienen Schmid nur zur Gestaltung des Zyklus als Ganzes, nicht aber zur Bildung der Formen im einzelnen. In Nr. 1–4 kommt nur jeweils eine der Formen überhaupt zum Einsatz; und in Nr. 5, wo 16 der 48 möglichen Formen der Reihe benutzt werden, zeigt sich, dass diese in keinem Zusammenhang mit der Formgliederung des Stückes stehen. Die Reihe als Ersatz für die formbildende Funktion der Harmonik in tonaler Musik ist in diesen Bagatellen von untergeordneter Bedeutung. Sie kommt nur in der Grossform zum Tragen. Hingegen forciert Schmid – zumindest in den ersten vier Stücken – die einheitsstiftende Funktion der Reihe. Wichtig ist dabei die tetrachordische Struktur, die die Reihe in einprägsame Segmente gliedert, die zumal im vierten Stück geradezu überdeutlich werden und zu einer Art Kreisen des Immergleichen, gleichsam einem Perpetuum mobile der Tonhöhen, führen.

"Perpetuum mobile", verstanden als ein stetiges Fliessen, wie es auch durch die allgegenwärtige Komplementärrhythmik bewirkt wird, könnte damit nicht nur als Titel des fünften Stückes, sondern als geheimes Motto des ganzen Zyklus gelten. In diesem Aspekt nähert sich Schmid, zumindest in den schnellen Sätzen 2, 3 und 5, der Motorik neoklassizistischer Spielart, die damals in der schweizerischen Szene der zeitgenössischen Musik dominierte, mit Komponisten wie Frank Martin, Willy Burkhard oder Conrad Beck.16 In der Kompositionsmethode und der konstruktiven Strenge blieb Schmid allerdings in dieser Zeit allein auf weiter Flur. Ein Kommilitone aus Schönbergs Berliner Schule, Alfred Keller, lebte zwar in Rorschach am Bodensee, aber war kaum in Kontakt mit ihm. Schmids Gesprächs- bzw. Korrespondenzpartner in Sachen Zwölftonmusik – Webern, Erich Itor Kahn, René Leibowitz – lebten in Österreich, den USA bzw. Frankreich, und entsprechend schwierig war in den Kriegsjahren die Kommunikation mit ihnen. Umso erstaunlicher ist dieses Werk, das in der Isolation eines Schweizer Alpentales entstand, in dem der Komponist hauptberuflich Blasmusiken, Laienorchester- und -chöre dirigierte.

1 Geb. am 1. Januar 1907 in Balsthal im Kanton Solothurn, gest. am 17. Dezember 2000 in Zürich.
2 Das Orchester war damals wie der Sender nach dem Ort der ursprünglichen Sendeanlagen benannt; der Sitz befand sich in Zürich, in einem der drei Hauptstudios des deutschschweizerischen Radios.
3 Sie erschien unter der Bezeichnung CTS-P 33-2 bei "Grammont", dem Label der "Communauté de travail pour la diffusion de la musique suisse" (Arbeitsgemeinschaft zur Förderung schweizerischer Musik). In dieser Arbeitsgemeinschaft ist der Schweizerische Tonkünstlerverein, de facto der Komponistenverband der Schweiz, federführend. Das Grammont-Label ist inzwischen in die Reihe "Musikszene Schweiz" des Migros-Genossenschafts-Bundes (CH-8031 Zürich) integriert worden.
4 Die andern beiden Werke sind das Trio für Klarinette, Violoncello und Klavier op.5 sowie die Rhapsodie für Klarinette und Klavier op. 11. Sie erschienen alle bei der Edition Hug, Zürich.
5 Im Falle der Bagatellen op. 14 wurde die unkorrigierte, mit einigen Tonhöhenfehlern behaftete Abschrift eines Kopisten publiziert – allerdings mit dem Segen des Komponisten, der darauf verzichtet hat, sie anhand seines eigenen Manuskriptes oder mittels einer Reihenanalyse zu überprüfen.
6 In seiner beim Kommissionsverlag Hug & Co. Zürich 1992 erschienenen Broschüre über Erich Schmid erwähnt Kurt von Fischer die Drei Klavierstücke nicht (ausser im Werkverzeichnis) und schreibt über die 1. Sonatine: "Die Opuszahl 1 besagt, dass Schmid dieses aus vier knappen und überaus prägnanten Sätzen bestehende Stück als sein erstes vollgültiges Werk verstanden haben will." (S. 39).
7 Bezeichnend für das durchgehende variative Prinzip in diesem Stück ist freilich, dass bei den ersten zwei Akkorde die Reihenfolge und beim dritten die beiden Hälften vertauscht sind.
8 Beide Hälften enthalten je eine kleine Terz, eine Quart und einen Tritonus. Das Intervall zwischen den beiden Hälften ist wiederum eine kleine Terz.
9 Schmid studierte seit Herbst 1927 bei Bernhard Sekles am Hochschen Konservatorium in Frankfurt.
10 "Begegnungen mit Anton Webern und seiner Musik. Ein Bericht von Erich Schmid", Schweizer Radio DRS 2, November 1983.
11 A. a. O.
12 Diese Stücke schrieb Schmid als Hommages für Verwandte, Freunde und Freundinnen, daher der Titel "Widmungen". Eine der Widmungsträgerinnen ist Martha Stiefel, seine spätere Ehefrau. Nr. 4 ist dem Komponisten und Pianisten Erich Itor Kahn gewidmet, den Schmid in Frankfurt kennenlernte und der wohl sein wichtigster Musikerfreund war. Mit ihm unterhielt er zur Zeit seiner Studien bei Schönberg und auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz einen ausführlichen Briefwechsel, in dem nicht nur von der Lebenssituation der beiden die Rede ist, sondern auch kompositionstechnische und ästhetische Fragen erörtert werden. Kahn war es auch, der im Pariser Exil René Leibowitz in Verbindung mit Erich Schmid brachte, eine Verbindung, die zunächst durch Briefwechsel hergestellt wurde, und nach dem Krieg dann zur persönlichen Begegnung führte und auch zu Gastdirigaten von Leibowitz bei Schmids Radio-Orchester in Zürich.
13 Dies war einerseits bedingt durch das Exil Schönbergs, aber wohl auch durch dessen einschüchternde und fordernde Persönlichkeit, die bei Schmid – wie der Briefwechsel mit Erich Itor Kahn zeigt – gemischte Gefühlen hervorrief. Jedenfalls beschied er eine Anfrage Schönbergs im Jahre 1932, ob er erneut für Studien nach Berlin kommen wolle, mit dem Hinweis auf seine Stellensuche abschlägig. Später beschränkte sich der Kontakt auf Briefkartengrüsse und eine Nachfrage Schönbergs seinen in Österreich zurückgebliebenen Sohn betreffend.
14 Siehe dazu den Aufsatz des Verf., "Eine Oase für die Wiener Schule – die Dirigenten Hermann Scherchen und Erich Schmid in Winterthur und Zürich" in: Ulrich Mosch (Hg.), "Entre Denges et Denezy…" Dokumente zur Schweizer Musikgeschichte 1900–2000, Basel/Mainz 2000.
15 Der Begriff ist hier im Sinne von Johann Sebastian Bachs Inventionen für Klavier verwendet.
16 Alle diese Komponisten wurden vom einflussreichen Basler Mäzen, Musikpolitiker und Dirigenten Paul Sacher entscheidend gefördert. Für Zwölftonmusik hatte Sacher indessen – in Übereinstimmung mit der Linie des Schweizerischen Tonkünstlervereins, die er wesentlich mitprägte – nichts übrig, siehe dazu den in Anm. 9 erwähnten Aufsatz des Verf. sowie Thomas Gartmann: "Erich Schmid und die kulturpolitische Situation in der Schweiz 1933–1960", in: Musik-Konzepte 117/118

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